Rund vier Monate nach der seit langem immer wieder geforderten Vergabe des Nobelpreises an Bob Dylan haben die Friedrich-Schlegel-Gradiuertenschule für literaturwissenschaftliche Studien und das Peter Szondi-Institut für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft mit dem Workshop Bob Dylan – Die Stimme und die Stimmen reagiert.

Ein Bericht von Wolfram Ette und Georg Witte

In den angelsächsischen Ländern ist die Grenze zwischen „U“ und „E“ stets fließender gewesen und undogmatischer gehandhabt worden als in Westeuropa. Und auch die Wissenschaft hat sich leichter damit getan, die sogenannte populäre Kultur zu absorbieren und zu analysieren. Dennoch stellt der Fall Bob Dylans vor besondere Probleme, weil in seinem Werk Pop und ‚hohe’ Kunst wirklich ununterscheidbar geworden sind. Jeden Song, den Dylan in seiner über 65-jährigen Karriere produziert hat, kann man einfach nur hören; man kann sich ihm anvertrauen, ohne darüber nachzudenken, und wird doch darin sein vollständiges Genügen finden (oder ‚ihres‘ – aber Dylan ist ein Künstler, für den sich tendenziell eher Männer begeistern). Gleichzeitig lassen sie unter den Blicken der (Musik-)Philologen eine Vieldimensionalität und Traditionsbewusstheit erkennen, die in der ‚Lyrik‘ der Gegenwart Seltenheitswert hat – ohne dabei in den hohen Ton zu verfallen, der für sie nicht selten kennzeichnend ist.

In gewisser Weise ist es ein alter europäischer Traum, der sich hier für einen Moment erfüllt hat – der Traum von der Neuen Mythologie, die alle erreicht und auf poetischem Niveau kulturelle Verbindlichkeit herstellt. Auf dem alten Kontinent blieb er bloße Beschwörung; in der Neuen Welt gab es kleine punktuelle Ansätze, in denen etwas davon sich verwirklichte.

Bob Dylan Die Stimme und die Stimmen
Plakat zum Workshop “Bob Dylan. Die Stimme und die Stimmen”

Für die wissenschaftliche Beschäftigung mit Dylan bringt das die methodische Notwendigkeit mit sich, in ihrem eigenen Verfahren das Populäre und das Elitäre, den Fan und den auf Exaktheit bedachten Forscher, die Naivität des emotionalen Response und das nüchterne Wissenwollen zusammenzuführen und aufeinander zu beziehen. Dementsprechend wurden die Referenten und ihre Vorträge ausgewählt:

Heinrich Detering, der durch seine Reclam-Einführung in Dylans Werk (2007) und durch das Buch Die Stimmen aus der Unterwelt (2015) einer der prominentesten akademischen Stimmen ist, die sich in Deutschland mit Dylan beschäftigen, legte in seiner Modellanalyse von Workingman’s Blues #2 dar, wie sehr Dylans Spätwerk aus dem Geist des Zitats verstanden werden muss. Die späten Songs bestehen zu großen Teilen aus unkenntlich gemachtem und stilistisch eingeschmolzenem Fremdmaterial – das Dylan in diesem Fall Ovids Exilschriften entlehnt hat. Er eignet sich das Fremde bis zur Verwechselbarkeit an, aber umgekehrt werden seine Songs dadurch zum Medium vieler Stimmen, die in „jederzeitlicher Gegenwart“ (Erich Auerbach) durch die Geschichte tönen; das Ich des Sängers ist, wie der späte Goethe es von sich behauptet hat, ein „être collectif“, das nicht auf Originalität, sondern auf Verbindlichkeit Anspruch erhebt.

Wolfram Ette beschäftigte sich in seinem Vortrag Magnolienduft. Mythische und historische Erinnerung in ‚Blind Willie McTell‘ ebenfalls mit Dylans Verhältnis zur Geschichte, das nach dem Furor seiner evangelikalen Phase (1978-82) zur zentralen Frage des Werks wird. Kann es sein, dass die lebendige Beziehung zur Vergangenheit, die sie aus einem bloßen Wissensbestand in erlebte Gegenwart verwandelt, erstirbt? Und was resultiert künstlerisch daraus? Im Falle der amerikanischen Kultur war diese Möglichkeit einer ‚mythischen Erinnerung‘, einer, wenn man so will, kollektiven ‚mémoire involontaire‘, in dem breiten Strom der populären Musik, der Balladen und Romanzen, der Gospels und Bluesnummern enthalten, die seit dem späten 18. Jahrhundert die amerikanische Geschichte begleitet haben und von der Pop- und Rockmusik der 1960er und 1970er Jahre eher verstärkt als abgeschwächt wurde. Was, wenn dieser Strom versiegt? Blind Willie McTell zeigt in seinem eigenen Verlauf den Prozess dieses Erinnerungsverlusts. Im Medium der beschwörenden Klage findet der Song aber zu einem dritten Weg diesseits der starren Alternative von Erinnerung und Erinnerungslosigkeit, der die Haltung des Dylanschen Spätwerks antizipiert.

Die Vorträge des Nachmittags stellten vor allem die musikalischen Aspekte von Dylans Schaffen in den Vordergrund:

Peter Kemper, der als Musikjournalist arbeitet und einem breiteren Publikum vor allem durch seine Bücher über die Geschichte der Rock- und Jazzmusik bekannt ist, unternahm es in seinem Vortrag „Ghosts of Electricity“– Jimi Hendrix und Bob Dylan, die komplexen Beziehungen zweiter überaus verschiedener Künstler aufzuhellen, die einander gleichwohl sehr verehrten. Hendrix’ Ekstasen und Dylans Distanz, der Zusammenhang von Gitarre, elektrischer Verstärkung und Körper auf der einen Seite, die ‚Kopfigkeit‘ und relative Körperlosigkeit von Dylans Musik auf der anderen – wie gehen diese Dinge (wenn überhaupt) zusammen? Kemper machte deutlich, dass ein solcher Zusammenhang nicht in der Verwendung der elektrischen Gitarre bestehen kann – die Dylan sein Leben lang eher konventionell gehandhabt hat –, sondern im Spannungsverhältnis zwischen Gitarre und Stimme. Es gibt bei beiden Künstlern einen Hang zum „Krach“ oder „Lärm“ (noise): zu den Nebengeräuschen, zu dem, was unter den Zeichen- und Ausdruckssystemen von Musik und Sprache liegt – zu dem, was die Kunst fundiert, was aber in ihr verschwinden muss, zumindest, wenn sie als hohe Kunst gesellschaftliche Anerkennung finden will.

Richard Klein, dessen 2006 erschienenes Buch My Name It Is Nothin’: Bob Dylan: Nicht Pop, nicht Kunst den gewichtigsten Beitrag zu Dylans Stimme(n) überhaupt darstellen dürfte, gab in seinem Vortrag Wie Bob Dylan singt eine Überschau über die Probleme, mit denen man es zu tun hat, wenn man sich mit Dylans Stimme beschäftigt. Da ist zum einen das Problem des Verhältnisses von Stimme und Zeit. Auf der einen Seite ist die Stimme das Medium, in dem die Gegenwart der Performance ihren paradigmatischen Ausdruck findet. Stimme und Präsenz gehören unmittelbar zusammen. Diese fast selbstverständlich scheinende Verbindung wird aber von Dylan auf höchst vielfältige Weise untergraben. Seiner Stimme fehlt – wenn man von Nashville Skyline absieht – der Brustton, die körperliche Resonanz; dadurch ‚zersingt‘ er das, was er singt: Melos, Text und Geräusch treten – in den verschiedenen Werkphasen mit höchst unterschiedlichem Akzent – auseinander wie die Spuren eines experimentellen Films. Dylans Stimme wird zum Medium komplexer historischer Verhältnisse: Sie ist das Organ einer ungeheuer reichhaltigen Phänomenologie der Geschichtlichkeit, in der Nostalgie und Verzweiflung ebenso einen Platz haben wie der nüchterne Blick zurück, die Kälte einer fast kosmischen Distanz und die seelenvolle Belebung eines Augenblicks, zu der der späte Dylan fast mehr in der Lage zu sein scheint als der frühe. Gerade die ‚Never Ending Tour‘ – also die Live-Performances seit ca. 1995 – versammelt verschiedene historische Momente im Augenblick der Performance; diese ist nicht einfach Gegenwart, sondern ihr Spielraum, der differenzierten Erscheinungen geschichtlicher Verhältnisse offensteht.

Klein beschloss seinen Vortrag mit einer En-bloc-Präsentation dreier Songs, die jeweils einen Aspekt dieses Feldes auf eine paradigmatische Weise repräsentieren – die Studioaufnahme von Blowin’ in the Wind, eine Livefassung von Workingman’s Blues #2 von 2009 und That lucky old Sun.