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In unserer Serie Drei Sätze schreiben Literaturwissenschaftler*innen über eine Textpassage, die ihnen nie aus dem Kopf ging.

MEDEA […] recipe iam natos, parens;
ego inter auras aliti curru vehar.
IASON Per alta vade spatia sublimi aetheri
testare nullos esse, qua veheris, deos! (Seneca, Medea, V. 1024–1027)

MEDEA […] Nimm, Vater, nun die Kinder hin!
Ich schweb im Flügelwagen durch die Lüfte fort.
JASON Flieg durch die hohen Räume zu des Aethers Höhn,
bezeug, daß, wo du hinfährst, keine Götter sind! (Übersetzung: Bruno W. Häuptli)

Diese drei (sich auf vier Verse verteilenden) Sätze stehen ganz am Schluss von Senecas Medea. Sie bilden den Höhepunkt der letzten Begegnung zwischen Jason und Medea. Kreusa, für die Jason Medea verlassen hat, und Kreon, König von Korinth und Kreusas Vater, sind bereits tot. Medea hat auch eines der beiden Kinder, die Jason ihr nicht lassen wollte, getötet und steht schließlich auf dem Dach ihres Hauses, das Jason erstürmen lassen will. Bei sich hat sie das tote und das noch lebende Kind. Jason fleht Medea an, das zweite Kind zu verschonen, doch Medea lässt nicht mit sich reden. Sie tötet auch das zweite Kind, kommentiert die Tat lakonisch – bene est, peractum est (‚Gut ist’s. Vollendet ist’s.‘) –, wirft die beiden toten Kinder vom Dach des Hauses und kündigt an, auf einem geflügelten Wagen durch die Lüfte zu entschwinden. Zurück bleibt der erschütterte Jason, der ihr fluchend nachruft: testare nullos esse, qua veheris, deos. Sie solle bezeugen, dass es dort, wo sie hinfahre, keine Götter gebe.

Was für ein Ende dieser Tragödie! Die Ermordung des zweiten Kinds, die so zynische ‚Rückgabe‘ der (toten) Kinder an Jason, die Abfahrt im Drachenwagen ohne Ziel, nachdem bei Seneca die seit Aristoteles umstrittene Aigeus-Episode nicht vorkommt. Dabei hat Medea das letzte Wort nicht. Doch wie lässt sich Jasons Fluch verstehen, der – dies darf man nicht vergessen – eben die Äußerung einer Figur ist, die hier allerdings nicht weiter kommentiert wird. Ist es eine atheistische Aussage, die einen leeren Götterhimmel behauptet? Oder geht es vielmehr darum, hyperbolisch die Ungeheuerlichkeit der gelingenden Flucht auszudrücken? Mag es sich sogar um eine ironische Äußerung handeln, die letztlich auf eine – im Stück freilich nicht mehr eingeholte – göttliche Gerechtigkeit verweist? Es ist vielleicht gerade die Stärke dieses Schlusses, dass eine nicht eindeutig zu fassende Aussage einer Figur am Ende steht und dabei – darauf kommt es mir an – jede Form poetischer Gerechtigkeit abgewiesen wird.

Nun stellt es eine große Versuchung dar, die Tragödie vom Ende her verstehen zu wollen, vom Phantasma der ekstatisch-enthemmten Frau, Mutter, ‚Barbarin‘, in der der Zorn (ira) nicht nur über die Liebe (amor), sondern auch über jede Form eines pflichtgemäßen Handelns gegen Gott und Mensch (pietas) die Oberhand gewinnt. Der das Gerechtigkeitsempfinden entschieden irritierende Schluss ist allerdings nur das eine; das andere hingegen ist die Tatsache, dass „die Antwort auf die Frage, wie es zu dieser Untat kommen konnte, ohne die Einbeziehung der Götter mit menschlicher Schuld und Fehlverhalten gegeben werden kann“ (Claudia Wiener): Eine (negative) Aussage über die Existenz der Götter oder ihr Wirken trifft das Stück im Ganzen, vielleicht anders als Jason am Ende, damit nicht.

Mich haben diese drei Sätze jedenfalls seit dem Moment, in dem ich sie zum ersten Mal gelesen habe, nicht mehr losgelassen, wohl aber hat sich im Laufe der Zeit meine Einstellung zu ihnen verändert. Die Freude an der gelungenen, so pointierten Formulierung des Schlusses wich allmählich einer gewissen Skepsis gegenüber der Selbstgenügsamkeit dieser Rezeptionshaltung. An dieser Einstellungsänderung hatte Gotthold Ephraim Lessing, der mich bis heute fasziniert wie kein zweiter Autor, entschieden Anteil.

In seinem Trauerspiel Miss Sara Sampson, für das Lessing auf etliche Vorlagen zurückgriff, wird die Medea-Jason-Kreusa-Konstellation – allerdings in hochgradig transformierter Weise – in die Konfrontation von Marwood, Mellefont und Sara überführt, wobei Lessing mit Blick auf den Medea-Stoff nicht nur auf Euripides, sondern auch auf Seneca und insbesondere auch auf das Verhältnis Senecas zu Euripides zurückgeht, wie Gisbert Ter-Nedden in einer prägnanten Interpretation gezeigt hat.

Analog zu Jason ruft auch Mellefont der Marwood einen Fluch nach: „Unglück und Tod, und wo möglich, die ganze Hölle möge sich auf ihrem Wege finden! Verzehrend Feuer donnre der Himmel auf sie herab, und unter ihr breche die Erde ein, der weiblichen Ungeheuer größtes zu verschlingen!“ (V,5) Diese Parallele ist bemerkenswert: Zum einen macht sich Mellefont in dieser ‚Rache-Raserei‘ (Gisbert Ter-Nedden), in der Lessing in rhetorischer Hinsicht unter anderem Seneca folgt, zum Ebenbild der Marwood, die zudem durch Saras Traum als ‚eine Sara ähnliche Person‘ exponiert wird: Und so ist es zum anderen höchst intrikat, dass „der sichtbare Übergang von Gut zu Böse, die Verwandlung Marwoods in eine Mörderin“, enggeführt wird mit „Saras Changieren zwischen hohen ethischen Forderungen und einer moralisch bedenklichen Selbstgerechtigkeit“ (Friedrich Vollhardt); die Eindeutigkeit der Trivialdramatik wird unterlaufen. Schließlich dispensiert der in Mellefonts Fluch vollzogene Ausgriff auf eine Sphäre göttlicher Gerechtigkeit die Rezipienten gerade nicht von einer Reflexion darüber, wie es – ganz immanent betrachtet, aber sicher nicht diesseits der christlichen Religion – ‚zu dieser Untat kommen konnte‘.

So wenig Lessings Trauerspiel schlechterdings mit religiösen Vorgaben, gar der lutherischen Rechtfertigungslehre verrechnet werden kann, so wenig geht Senecas Tragödie vollkommen in stoischer Doktrin auf; doch stellen die christliche Religion respektive die stoische Philosophie – und insbesondere die Psychologie – wesentliche Voraussetzungen des jeweiligen Stücks dar, wobei beide über das Böse im menschlichen Handeln, ja den (schnellen) Übergang von Gut zu Böse reflektieren und – ohne göttliche Gerechtigkeit zu verneinen – den weltimmanenten, standortgebundenen Rekurs auf die Transzendenz zum Ausdruck menschlicher Hilflosigkeit und Verzweiflung herabstimmen.

In dieser Hinsicht lassen sich die drei Sätze am Ende von Senecas Medea nicht einfach ‚verstehen‘, sondern sie sind der Ausgangspunkt einer weitergehenden Reflexionsbewegung, die einerseits den literarischen Text in einen Dialog treten lässt mit spezifischen Kontexten, die andererseits aber auch auf eine in den Texten je unterschiedlich geleistete Arbeit an der Tradition abzielt, die der Unternehmung der Literaturgeschichtsschreibung einen Teil ihrer Unwahrscheinlichkeit nimmt. Denn hier ergibt die Konstellierung literarischer Werke Sinn.

Maximilian Benz forscht 2022/23 als Fellow am Wissenschaftskolleg zu Berlin; er ist seit 2020 Professor für Deutsche Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit an der Universität Bielefeld. Im Jahr 2022 erschien die Monographie ‚Arbeit an der Tradition. Studien zur literarhistorischen Stellung und zur poetischen Struktur der Werke Rudolfs von Ems‘ im Verlag Königshausen und Neumann.

Bild: Manuskript Friedrich Schillers (Wilhelm Tell), © wikimedia commons