Wie lässt sich Alltäglichkeit thematisieren? Hat sie eine bestimmte historische Signatur? Und ist Alltäglichkeit eine allgemein-menschliche oder nicht vielmehr eine entlang Klassen- und Geschlechtergrenzen strukturierte Erfahrungsdimension? Diesen Fragen widmeten sich die Diskutant:innen der Tagung „Zeiten der Alltäglichkeit“ an der Freien Universität Berlin.

von Jonas Schwarz

Mit dem Begriff des Alltäglichen ist das Selbstverständliche, Gewöhnliche und Offensichtliche angesprochen. Die unter diesen Begriff fallenden Phänomene werden gemeinhin als belanglos, als keiner weiteren Befragung bedürftig angesehen. Im Gegensatz zu dieser scheinbaren Bedeutungslosigkeit der Alltäglichkeit und der ihr zugehörigen Handlungen, Objekte und Begebenheiten steht die kontinuierlich angewachsene Beachtung, die ihr in wiederkehrenden Konjunkturen in den Kultur-, Geistes-, Geschichts- und Sozialwissenschaften zuteil geworden ist. Einer der zentralen Gründe für dieses Interesse an der Alltäglichkeit und dem Alltäglichen besteht in einer rätselhaften Eigenschaft, die schon das Denken der Spätaufklärung beschäftigte und die im 20. Jahrhundert vor allem durch Martin Heidegger in den Kanon der abendländischen Philosophie Eingang fand: Das Alltägliche ist uns das Allernächste, und doch entzieht es sich, sobald wir es zu begreifen versuchen.

Diese paradoxe Konstellation von Nähe und Entzug und das damit verbundene epistemische Problem bildeten eines der Leitmotive der Tagung, die am 10. und 11. Oktober in Berlin stattfand. Sie wurde von zwei Literaturwissenschaftlern (Jonas Cantarella, Michael Gamper) und einer Philosophin (Dina Emundts) der Freien Universität Berlin organisiert. Dieser interdisziplinären Ausrichtung folgend, umkreisten die Diskussionen nicht nur die Schwierigkeit einer theoretischen Erfassung von Alltäglichkeit, sondern auch die Frage nach ihrer künstlerischen Darstellbarkeit in Film, Literatur, Malerei, Performance-Kunst und Theater. Ein besonderes Augenmerk wurde auf die zeitliche Dimension der Gegenstände, Handlungsformen und Szenarien gelegt, die das Alltägliche konstituieren. Die Zeitlichkeit klingt in dem Begriff All-Tag bereits etymologisch an. Alltäglichkeit – da war man sich unter Diskutant:innen einig – müsse als eine zyklische Zeit, als eine Zeit wiederkehrender Handlungen und Materialitäten verstanden werden, wodurch sie einer progressiv-linearen Zeitlichkeit des Fortschritts entgegengesetzt sei. Zu der Frage, wie scharf diese Entgegensetzung angesetzt werden müsse bzw. ob die Alltäglichkeit eine Figur der Entfremdung – im Sinne einer Blockierung von Freiheit und kreativen Potentialen – sei, nahmen die Vorträge durchaus unterschiedliche Perspektiven ein.

Jonas Cantarella (FU Berlin) spürte in seinem Vortrag dem ideengeschichtlichen Ursprung des Abstraktums Alltäglichkeit nach. Alltag hat es Cantarella zufolge zwar immer schon gegeben, dieser sei aber erst Ende des 18. Jahrhunderts zum Gegenstand intellektueller Reflexion aufgestiegen und damit als Phänomen in den Blick gerückt. In dieser Zeit tauchte der Begriff Alltäglichkeit auch erstmals in Wörterbüchern auf. Die Hintergründe dieses neuen Interesses bilden für Cantarella einerseits eine grundsätzlich veränderte, an Newtons Physik orientierte Zeitwahrnehmung, die durch den Gebrauch von mechanischen Uhren auch in die Alltagswelt Eingang fand, und andererseits der wissensgeschichtliche Kontext der empirischen Psychologie. Cantarella argumentierte wie folgt: Zeit wird spätestens im 18. Jahrhundert konzeptuell vom wiederkehrenden Verlauf des Lichttags entkoppelt. Von nun an wird sie als linear verlaufend wahrgenommen. In dieser veränderten Gemengelage wiederum wird die zirkuläre Alltagszeit aus der Perspektive des Individuums zum Problem – sie läuft der modernen Zeitauffassung zuwider. Das Individuum verliert in der Alltagserfahrung den Bezug zu der Singularität einzelner Augenblicke. Die eigene Lebenszeit erscheint konträr zum gesellschaftlichen Zeitgeist nicht als eine lineare Progression. Diese individuell erfahrene Spannung wird schließlich in der neu aufkommenden empirischen Psychologie durch Autoren wie Carl Phillip Moritz intellektuell aufgegriffen. Durch eine Praxis kleinteiliger Introspektion und Dokumentation innerer Augenblicke versuchten die Anhänger der empirischen Psychologie, die amorphe Alltagszeit mit dem vorherrschenden Zeitverständnis in Einklang zu bringen. In diesem Bemühen einer Überwindung der Alltäglichkeit, so Cantarellas originelle These, ist das Phänomen als solches überhaupt erst entstanden.

Einen etwas anders gelagerten Historisierungsversuch der Alltäglichkeit, der aber ähnliche Probleme aufgreift, unternahm Dirk Quadflieg (Uni Leipzig). In seinem Vortrag fokussierte Quadflieg stärker auf das 20. Jahrhundert und die wissenschaftsgeschichtliche Konjunktur, die die theoretische Beschäftigung mit dem Alltag hier erfuhr. Quadfliegs These lautet, dass diese Konjunktur nicht bloß eine „akademische Moderescheinung“, sondern die einzig mögliche Reaktion auf das zentrale Begründungsproblem der Moderne darstellt. Diese zeichnet sich laut Quadflieg im Kern durch den Verlust eines geschichtsunabhängigen Fundaments des Denkens und Handelns aus. An die Stelle metaphysischer Systeme und Götter trete nun der Alltag, der die historisch wandelbare Grundlage jedweden Denkens verkörpere. In einem eigenartigen Gegensatz zu dieser wissenschaftlichen Aufwertung steht Quadflieg zufolge die Abwertung des Alltagslebens, die dieses mit Blick auf die ebenfalls recht moderne Konzeption der wesentlichen Freiheit des Menschen erfahre. Der Alltag werde zumeist als ein Ensemble nicht-schöpferischer, bloß reproduktiver Tätigkeiten gesehen und somit als Ausdruck von Unfreiheit und Entfremdung problematisiert. Auf diese Interpretation, deren einziges Befreiungsangebot die Überwindung des Alltags ist, lässt sich Quadflieg nicht ein. Er ist der Überzeugung, dass Alltäglichkeit unhintergehbar ist und sich Freiheit nur in ihr realisieren kann. Die Alltäglichkeit, so argumentiert Quadflieg vor diesem Hintergrund, könne nicht als absolut monotone Wiederholung verstanden werden. Die alltäglichen Routinen würden nämlich notwendigerweise von einer Differenz heimgesucht, die den involvierten Akteur:innen Spielräume für Veränderung erschließe. Mit seinem Begriff des Alltags als einer „differentiellen Wiederholung“ stellt sich Quadflieg somit gegen dessen moralische Abwertung. 

Nicht alle Vorträge der Veranstaltung nahmen den Alltag in einer philosophischen Makroperspektive ins Visier. Livia Kleinwächter und Nicolas Pethes von der Universität zu Köln näherten sich dem Thema etwa mit Rekurs auf Sigfried Kracauers Analyse des Angestelltenalltags in der späten Weimarer Republik an. Vielleicht gerade weil diese Analyse historisch und sozial spezifischer situiert ist, warf der Vortrag einige neue Aspekte auf. Besonders hervorzuheben ist, dass sich Kracauer nicht für Alltäglichkeit als individuellen Zeitwahrnehmungsmodus, sondern als ein Massenphänomen interessierte, welches im Spannungsfeld von durchrationalisierter und uniformierter Angestelltenökonomie auf der einen Seite und Zerstreuung fördernder Kulturindustrie auf der anderen Seite produziert wurde. Die alltägliche Zeit von Kracauers Angestellten ist laut Kleinwächter und Pethes als eine „gestaute Zeit“ zu verstehen; ständiger Aufschub eines (unerreichbaren) besseren Lebens, von dessen Vorzügen die Massenmedien den Angestellten in ihrer Freizeit ein Bild einflößten. Kleinwächter und Pethes interessieren sich aber nicht allein für den Inhalt von Kracauers Analysen, sondern unter anderem auch für deren Publikationsform. Bevor diese nämlich in Buchform erschienen, waren die einzelnen Kapitel Teil einer Artikelserie in der Frankfurter Zeitung. Daraus ergibt sich den beiden Vortragenden zufolge eine Konvergenz von Inhalt, Erscheinungsmedium und entsprechender Rezeptionspraxis, die die Darstellungsproblematik der Alltäglichkeit in gewisser Weise aufhebt. Die Zeitung ist als ein serielles, formal-redundantes Medium, das technisch hundertausendfach reproduziert wird und dessen Rezeption zu einer Uniformierung der Meinungen beiträgt, in der Tat paradigmatisch für Kracauers Begriff von Alltäglichkeit.

Während Kleinwächters und Pethes’ Vortrag eine Klassendifferenzierung in die Tagungsdiskussion einführte, beleuchtete Andreja Novakovic (UC Berkeley) die Genderdimension der Alltäglichkeit. Die zirkulär-redundant verlaufende Alltagszeit ist vor allem eine Zeit reproduktiver Tätigkeiten und somit im Besonderen die Zeitlichkeit weiblich gelesener Körper. Dies im Blick, eruierte Novakovic die Bedeutung der alltäglichen Hausarbeit, indem sie Schriften von Simone de Beauvoir und Silvia Federici sowie den Film Jeanne Dielman von Chantal Akermann miteinander verglich. Dabei ging es einmal mehr um die Frage, ob die Alltäglichkeit zwangsläufig eine Figur der Entfremdung sei. Während Beauvoir diese Frage zumindest in Bezug auf die alltägliche Hausarbeit eindeutig bejahen würde – sie versteht diese als eine endlos repetitive Sisyphusarbeit, die weder Neues noch Bleibendes hervorbringt –, sind die Positionen Federicis und Akermans von Ambivalenzen gezeichnet. Beide ringen laut Novakovic darum, Hausarbeit und die Frauen, die diese täglich leisten, aufzuwerten, deren alltägliche Praktiken in diesem Zusammenhang als ökonomisch bedeutsame und sinnstiftende Tätigkeiten sichtbar zu machen und gleichzeitig die raumzeitliche Beschränktheit dieser Arbeit – die einer patriarchalen Logik folgt – nicht zu verdecken.

Novakovics ambivalente Auseinandersetzung mit dem Thema der alltäglichen Zeit kann als repräsentativ für den Grundtenor der Tagung angesehen werden. Die Tagungsbeiträge, die ich im Rahmen dieses Berichts nicht alle umreißen konnte, näherten sich dem Thema von unterschiedlichen Standpunkten und auf heterogenen Abstraktionsniveaus. Sie waren in ihren Schlussfolgerungen selten vorhersehbar und in ihren Beurteilungen äußerst differenziert. Einziger Wermutstropfen war vielleicht, dass angesichts der vielfältigen inhaltlichen und methodischen Zugänge die notorisch flüchtige Alltäglichkeit ab und an zu entwischen schien. Aber das liegt unweigerlich in der Sache – ganz wie Maurice Blanchot sagt: „Le quotidien échappe. C’est sa définition“

Jonas Schwarz studiert im Master Philosophie an der FU Berlin. Er arbeitet zu Ideologietheorie, Hermeneutik des Alltags und wissenschaftlichen Revolutionen.

Titelbild: A Day in the Life of a Wartime Housewife-Everyday Life in London, England, 1941 © wikimedia commons